Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuss der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen.
(Artikel 22 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, verabschiedet am 10.12.1948)
Tagesspiegel: Herr Minister, beeindruckt Sie eigentlich kein einziges Argument der Gegner von Hartz IV?
Joschka Fischer: In Wahrheit lautet das zentrale politische Argument, das ich höre: Es muss alles bleiben, wie es ist. Ich wäre dafür, wenn wir das bezahlen könnten. Wir können es aber nicht bezahlen.
(Interview „Wir können die Ängste der Menschen entkräften“, Tagesspiegel vom 26.08.2004)
Die behauptete Alternativlosigkeit als Begründung von Sozialkahlschlag ist ein alter Hut. Nicht erst Lindner und die Ampel erklären ein Leben ohne Sorgen und Nöte zur romantischen Sehnsucht. Sie tun dies allerdings zur Legitimation des geplanten, in der Geschichte der BRD herausstechenden Kriegs- und Kürzungshaushalts, der wider bessere zivile Möglichkeiten eine Verschiebung zu Gunsten des Militärischen verkündet. Auch die deutschen Unternehmen werden bedacht: Dass wir angesichts der spekulationsgetriebenen Inflation in kalten Wohnungen frieren und bestenfalls beim Blick auf die Lebensmittelpreise ins Schwitzen kommen, soll uns als besonders solidarische Kraftanstrengung verkauft werden. „Solidarität“ mit dem Rüstungsetat? Durch Verzicht aus der Krise?!
Das Verzichtsgebot der Ampel-Koalition richtet sich nicht an die hierzulande wie weltweit durch Ausbeutung und Ressourcenzerstörung Profite scheffelnden Aktionär:innen und reichen Erb:innen aus dem Forbes-Ranking. Es richtet sich an Geflüchtete, Arbeitslose, an das Gesundheitswesen – und an Studierende. Die Empfehlung, wer nur hart arbeite und sich ansonsten brav an alle Regeln halte, käme schon noch zurecht und werde womöglich in einer unbestimmten Zukunft dafür belohnt, soll „Rette sich wer kann – Jeder gegen Jeden“ zum Motto erheben. Diese Mär des individuellen Leistungsträgertums lenkt davon ab, dass längst genug Reichtum vorhanden ist: Er ist lediglich von den Bankkonten und aus den Firmenbesitzen der Superreichen zu befreien, um gesellschaftlich produktiv zu werden.
Da hilft Kontra geben. Ein lebenswertes Leben braucht gesellschaftliche Rahmenbedingungen, in denen alle sich entfalten können und niemand von Zukunftsängsten niedergedrückt wird. Dazu gehört die Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse auf hohem Niveau: Wohnorte, die warm und komfortabel sind; Essen, das nicht nur bezahlbar, sondern auch nahrhaft und lecker ist; Arbeit, die sinn- und würdevoll ist und angemessen entlohnt wird.
So auch die Tätigkeit der Universitätsmitglieder: Je bedarfsgerechter die Universität und ihre sozialen Einrichtungen durch öffentliche Mittel finanziert sind, desto weitreichender kann mit ausreichend Platz, Personal und Zeit der humanistische Anspruch „der Forschung, der Lehre, der Bildung“ realisiert werden. Studierende haben dann Muße zur Vertiefung gesellschaftlich drängender Fragestellungen statt von Job zu Job zu hetzen, Professor:innen forschen unabhängig von (damit auch stärker gegen) Konzerninteressen zur Realisierung der UN-Nachhaltigkeitsziele, Bibliothekar:innen kuratieren sorgfältig die Wissensschätze der Menschheit anstatt mit der als Sparmaßnahme verpackten Digitalisierung zu konkurrieren, das Reinigungspersonal spielt eine relevante Rolle im Gesamt statt als outgesourcte Bedienstete, in der Mensa kann mit besten Zutaten gekocht und länger als eine Viertelstunde verweilt werden und das Universitätspräsidium kann die Verwaltung demokratisch leiten anstatt neoliberale New-Work-Konzepte unter den Beschäftigten zu vermarkten.
Wenn wir zu diesem Zweck für gesellschaftliche Umverteilung von oben nach unten wirken, gewinnen die studentischen Kämpfe für eine staatliche Ausbildungsfinanzierung (Studierenden-, Auszubildenden- und Schüler:innen-BAföG) an Sinn und Durchsetzungsfähigkeit: Solidarität ist mehr als Fair-Trade-Kaffee.